Wenige Wochen später im November 2015. An der Grenze zu Freilassing. Es ist 3 Uhr früh. Ich bin am Grenzübergang Freilassing. Im letzten Zelt, bevor es über die Brücke nach Deutschland geht. Draußen ist es noch dunkel. Kalt. Alle halbe Stunde verlassen 30 Menschen dieses Zelt und 30 neue kommen. Meine offizielle Aufgabe hier ist es, für einen geordneten Ablauf zu sorgen. Wir haben eine Kinderecke eingerichtet, mit Decken und ein paar Spielsachen. Die Erwachsenen danken es uns mit Blicken. Viel wird nicht geredet. Was wir geben, ist Augenhöhe. Respekt. Verständnis. Ein Lächeln hier. Eine kleine Geste dort. In dieser Nacht durchschneide ich bei zirka 500 Menschen das Armband und öffne das Zauntor, damit sie über die Brücke gehen. Schüttle Hände – sage „Good Luck“ wie ich es noch nie gesagt habe. Ein kleines Mädchen, dem ich zuvor ein Blatt Papier und Stifte reichte, dreht sich um und läuft noch einmal zurück. Zu mir. Steckt mir ein Bild zu, das sie im Zelt gezeichnet hat und lächelt. Ich sehe nur Wasser und Menschen. Im Wasser. Ohne Boot. Rechts oben ein Sonnenfleck. Ich bin bestürzt. Umarme sie. Danke! Was werden wir unseren Kindern erzählen? Was machen wir hier? Was wir tun können, ist begrenzt. Aber es gibt Kraft, als freiwilliger Helfer Teil von einer Zivilgesellschaft zu sein, die menschlich handelnd vorangeht.
Im Herbst 2015 hatte man kurze Zeit das Gefühl, dass das Schüren von Ressentiments gegenüber Schutzsuchenden in diesem Land nicht mehrheitsfähig ist. Das hat sich geändert. Grundlegend. Bald schon wurden Obergrenzen eingeführt und hässliche Bilder bewusst in Kauf genommen. Über die Köpfe der Geflohenen und Schutzsuchenden hinweg. Im Namen eines grausamen Spiels, das ich geostrategisches Domino nenne. Wo Domino gespielt wird, gibt es einen ersten Stein. Und eine lange Schlange aus Steinen. Und irgendwo am Ende der Schlange da erwischt es Menschen. Da werden Menschen begraben und Hoffnungen. Doch es war kein Spiel, das an der mazedonischen Grenze in Idomeni gespielt wurde. Das war reales Tränengas. Das war reale Gewalt.
2015: Szene 3
Weiter nach Lesbos. Zu den Bergen von Schwimmwesten, die sich an der Küste türmen. Zu den Fischern, die seit Juli 2015 beinahe täglich tote Menschen aus dem Meer ziehen; und wenn sie Menschen in Seenot helfen womöglich der Schlepperei bezichtigt werden. Hier an den Rändern zeigt Europa sein wahres Gesicht. Hier konnte man sie sehen, die Dominoeffekte, mit denen Spin-Doktoren die politische Debatte gestalten, ohne an Lösungen interessiert zu sein.
Frauen, Männer, Kinder. So viele Kinder. Traumatisiert. Verzweifelt. Tot. Unerträgliche Bilder, die sich eingebrannt haben, wie das des 3-jährigen toten Jungen am türkischen Strand. Mit rotem T-Shirt und kurzer blauer Hose. Das Gesicht im Sand vergraben. Sein Name war Alan Kurdi. Ich muss ihn hier sagen. Es ist schwer hinzuschauen. Aber wohin sollen wir schauen? Überall werden sie angespült. Menschen, die alles zurückgelassen haben. Hals über Kopf geflohen sind, auf der Suche nach dem Silberstreif am Horizont, der sich Hoffnung nennt. Noch immer.
fairMATCHING – eine Idee, die zündet
Wenn ich über die Anfänge von fairMATCHING schreibe, muss ich auch darüber schreiben. Ich kann und will diese Bilder und die Geschichten, die sie erzählen, nicht vergessen. Flucht beginnt dort, wo Menschen fliehen. Hals über Kopf. In der Nacht, weil sie um ihr Leben fürchten; weil sie verfolgt werden; weil es kein Wasser mehr gibt, das sie trinken können; weil sie Kinder haben, die seit Monaten keine Schule mehr besuchen konnten; weil Existenzen auseinanderbrechen und die Hoffnung verschwunden ist. Die Situation war extrem damals. Extrem aufgeladen. Und wir? Wir wollten was tun!
Und wir tun noch immer: Seit 2016 begleiten wir Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund individuell und auf Augenhöhe auf ihrem Weg in den Arbeitsmarkt. Weil wir davon überzeugt sind, dass Arbeit ein Motor sein kann, um sich in einem neuen Land zurechtzufinden und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Als wir Ende 2015 mit unserem Ansatz ins kalte Wasser sprangen, gab es überall Flüchtlingsheime und unsere Arbeit bestand zum großen Teil im Sondieren der Situation. Unter den Geflüchteten von damals finden sich heute Menschen und Freunde, die in Österreich Karriere gemacht haben, was zeigt, dass Integration langsam in die Tiefe geht. Die UNHCR verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff „Naturalization“ als Maßstab für gelungene lokale Integration. Ende Dezember 2018 beschließt sie in diesem Zusammenhang einen New Deal, den sie Global Compact on Refugees nennt, mit der „Stärkung der Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der geflüchteten Menschen“ als einen von 4 Eckpfeilern. Es hat sich viel getan, hierzulande. Und trotzdem: das Sterben an den Grenzen von Europa hat nie aufgehört, auch wenn es aus den Medien verschwunden ist.
Auch wir haben damit leben gelernt. Wir reden nicht darüber, was an den Rändern von Europa passiert oder was am Balkan gerade abläuft. Wir reden nicht von der unzumutbaren Situation Tausender Kinder auf Lesbos oder Chios. Wer reden nicht mehr über den Krieg in Syrien. Oder das Regime in Afghanistan. Wir echauffieren uns nicht mehr darüber, dass Österreich es nicht schafft, in Zeiten von #corona ein Zeichen zu setzen und wie Deutschland und andere halbwegs zivilisierte Länder ein paar Kinder aus den total überfüllten Flüchtlingslagern aufzunehmen. Wir haben uns damit abgefunden, dass wir nach außen hin nicht menschlich handeln, weil das unser Land für Menschen, die sich auf der Flucht befinden, attraktiv machen würde. Und wir leiden. Wir leiden unter dieser unerträglichen, von oben aufgezwungenen Logik genannten Schizophrenie wie die Hunde. Weil wir insgeheim wissen, dass damit unsere Loyalität zu einem Land, das wir lieben, auf dem Spiel steht. Und weil wir wissen, dass “die hermetische Schließung der Südgrenze Europas durch die EU eine Liquidierung des Asylrechts ist und damit ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit”, wie Jean Ziegler es auf den Punkt bringt.
Aber zurück zu fairMATCHING. Und dorthin, wo wir Dinge in die Hand nehmen und gestalten können. Wir sind seit 2018 Partner des AMS, weil wir bewiesen haben, dass individuelle Begleitung auch in Zahlen messbaren Erfolg bringt. Und zwar nachhaltigen. Und weil wir jeden Tag aufs Neue versuchen, unser Angebot anzupassen. Zu adaptieren. Zu optimieren. Wir sind erfolgreich, weil wir uns nie hinter Maßnahmen verstecken, sondern immer den Dialog suchen. Vorbehaltlos. Wir sind erfolgreich, weil wir über den Tellerrand schauen, das heißt, auch das sehen, was nicht unmittelbar mit unserer Kernaufgabe zu tun hat. Weil wir Menschen nicht auf einen Aspekt reduzieren, sondern versuchen, sie in ihren Bedürfnissen ganzheitlich ernst nehmen. Das schafft jene Beziehungsqualität, wo das Miteinander gedeiht.
Outside-the-Box
Dieses Denken „Outside the box“ war und ist auch die Vision von fairMATCHING –, weil es uns von Anfang an nicht nur um Arbeitsvermittlung ging, sondern um das dynamische Verhältnis von Arbeit UND Integration, wie es unsere Tagline „Arbeit als Motor für Integration“ nahelegt. Arbeit kann Integrationsmotor sein, muss es aber nicht. Arbeit kann bestehende Schwierigkeiten auch zuspitzen, Isolation verschärfen, wenn Vorurteile das Sagen haben oder/und es keinen Raum gibt, in dem man/frau wachsen kann. Genauso wie Familie Schutz sein kann und Rückzugsort, aber auch Gefängnis, wenn Frauen mit Fluchthintergrund sich entschließen, ihren eigenen Weg zu gehen und kulturelle Festschreibungen dabei mitunter den Atem nehmen.
Vor diesem Hintergrund haben wir Arbeitsvermittlung niemals als isoliertes Ziel gedacht, sondern immer auch auf das Rundherum geschaut und darauf, wie diese Arbeit sich für den Einzelnen anfühlt; was durch Arbeit passiert; ob sie beflügelt oder niederhält; ob sie isoliert; ob sie Erfahrungen zementiert oder neue Möglichkeitsräume öffnet; ob sie Menschen festschreibt auf einen Status Quo oder ob sie die Potenziale sieht, die brach liegen, und diese entwickelt.
Unser richtungweisendes EU-Projekt FRAUEN MUT MACHEN, das wir 2018 und 2019 durchführten, war in dieser Hinsicht genauso wichtig, wie das unsere Arbeit flankierende Erzählprojekt VON WO ICH MICH SEHE oder unsere zahlreichen, etwas profaneren JOB-SPEED-DATING-Events.
Unser Denken „Outside the box“ brachte es auch mit sich, dass wir im letzten Jahr – angeregt durch die Berührung mit europäischen Grass-Roots-Projekten – das für uns Zusammengehörende – Arbeit UND Integration – in einem neuen Anlauf trennten und als Replik auf die reale Situation provokativ zuspitzten: „Arbeit und?...“ versucht in aller Entschiedenheit die Frage zu beantworten, was „Arbeit“ dem Einzelnen in seiner konkreten Situation bringt und was „trotz Arbeit“ im Sinne eines guten Zusammenlebens zu tun bleibt.
Konkret stellten wir uns ganz entschieden die Frage, wie die Kluft, die sich immer wieder zwischen der Vermittlung von Arbeit und der Entwicklung in Richtung aktiver und vollwertiger Bürgerschaft auftut, nachhaltig zu schließen ist. Denn das ist der wunde Punkt, der uns auch nach fünf Jahren noch zu schaffen macht: Dass geflüchtete Menschen hierzulande zwar allerhand Zuwendungen erfahren, jedoch dort, wo sie nicht mehr empfangen, sondern in die Gestaltung gehen wollen, die gläserne Decke spüren, die sie an der selbstbestimmten Verfolgung ihres Wegs hindert.